Wir sitzen in einem Boot

Wir haben eine gemeinsame Verfolgungsgeschichte

Holocaust und Porrajmos sind zwei Seiten der gleichen Münze: des rassistischen Verfolgungswahns der Nationalsozialisten und ihrer willigen Helfer. Gleich nach der Machtübernahme aufgrund der Wahlergebnisse von 1933 beginnen die Inhaftierungen von Sinti und Roma in Konzentrationslager. Auf der Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 werden ab 1934 auch Sinti und Roma zu Opfern von Zwangssterilisationen. 1933 wird unter dem Kommando von Reichspropagandaminister Josef Goebbels die Reichskulturkammer gegründet, in der die Kulturschaffenden zwangsorganisiert werden sollen. Der „rassisch“ begründete Ausschluss aus einer der Gliederungen der Reichskulturkammer, zum Beispiel der Reichsmusikkammer oder der Reichsfilmkammer, bedeutet für Juden wie Sinti und Roma faktisches Berufsverbot.

1935 werden die „Nürnberger Rassengesetze“ verkündet. Sinti und Roma werden ebenso wie Juden zu Bürgern mit eingeschränkten Rechten herabgestuft, Ehen und nichteheliche Beziehungen mit “Ariern” sind ihnen verboten. Reichsinnenminister Frick am 3. Januar 1936: „Zu den artfremden Rassen gehören […] in Europa außer den Juden regelmäßig nur die Zigeuner.“ Vor Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 werden zwar rassistische Schilder, etwa die Boykottaufrufe gegen jüdische Geschäfte, aus der Öffentlichkeit entfernt, aber Hunderte von Berliner Sinti und Roma in einem KZ-ähnlichen Zwangslager in Berlin-Marzahn interniert. Auch in anderen Städten werden solche Lager eingerichtet. Die schrittweise Entrechtung von Juden, Sinti und Roma und ihre Ausgrenzung aus nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens schreitet voran. 1937 wird die „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ unter Leitung von Dr. Robert Ritter ins Leben gerufen. Sinti und Roma im Reichsgebiet sollen erfasst und “rassisch” kategorisiert werden, wie es auch mit Juden geschieht. Ritter und seine Mitarbeiterin Sophie Erhardt fertigen bis Kriegsende 24 000 “Rassegutachten” an. Sie bilden eine wesentliche Grundlage für die Deportationen in KZ und Vernichtungslager.

Von Juni 1938 bis Juni 1939 werden mindestens 2 000 Sinti und Roma, darunter Kinder ab 12 Jahren, in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald, Dachau, Mauthausen und Ravensbrück verschleppt, wo sie Zwangsarbeit für Unternehmen der SS leisten müssen. Himmler befiehlt die Einrichtung einer „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, die die Erfassung und Verfolgung der Sinti und Roma im Deutschen Reich steuert und koordiniert.
Das “Reichskriminalpolizeiamt” unter der Leitung von SS-Oberführer Nebe wird im September 1939 Teil des neu gegründeten „Reichssicherheitshauptamts“ (RSHA), das bei der Planung und Organisation des Völkermords an Juden und an Sinti und Roma im besetzten Europa eine Schlüsselfunktion hat. Am 8. Dezember 1938 erfolgt der “Zigeuner-Erlass” Himmlers, demzufolge die „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen“ sei. Ziel ist die „endgültige Lösung der Zigeunerfrage“. 1939 und 1940 wird auf Besprechungen der Amtschefs und der Einsatzgruppenleiter im „Reichssicherheitshauptamt“ beschlossen, die Juden sowie „die restlichen 30 000 Zigeuner“ aus dem Reichsgebiet in das besetzte Polen zu deportieren. Ein „Festsetzungserlass“ bereitet die geplanten Deportationen vor. Allen Sinti und Roma wird unter Androhung von KZ-Haft verboten, ihre Wohnorte zu verlassen. Aufgrund eines weiteren Befehls von Himmler erfolgt im April 1940 die erste Massendeportation ganzer Familien in das besetzte Polen. Dort werden sie in Konzentrationslagern und Ghettos (u. a. in Warschau oder Radom) zur Zwangsarbeit eingesetzt. Der größte Teil der Verschleppten kommt in der Folgezeit gewaltsam ums Leben.

Die Ausgrenzung der Sinti und Roma gleicht immer mehr der der Juden. 1941 ordnet das Oberkommando der Wehrmacht „aus rassepolitischen Gründen“ die „Entlassung von Zigeunern und Zigeunermischlingen aus dem aktiven Wehrdienst“ an. Ein Runderlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung schafft die formalen Voraussetzungen für den Ausschluss von Sinti- und Roma- Kindern vom Schulunterricht, wie er in vielen Städten bereits seit Ende der Dreißigerjahre praktiziert wird. Der deutsche Militärbefehlshaber in Serbien erlässt eine zweisprachige „Verordnung betreffend die Juden und Zigeuner“. Darin heißt es: „Zigeuner werden den Juden gleichgestellt.“
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion werden Roma und Juden hinter der Front systematisch von den „Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD“ sowie Kommandos der Wehrmacht und der Polizei erschossen. SS-Einsatzgruppenleiter Otto Ohlendorf sagt später im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess aus: „Es bestand kein Unterschied zwischen den Zigeunern und den Juden. Für beide galt damals der gleiche Befehl.” In Serbien wird befohlen, „alle jüdischen Männer und alle männlichen Zigeuner als Geisel der Truppe zur Verfügung zu stellen.“ Tausende Juden und Roma werden in der Folge von Kommandos der Wehrmacht erschossen. Aus dem Burgenland werden etwa 5 000 Sinti und Roma, die Hälfte von ihnen Kinder und Jugendliche, unter der Regie Eichmanns nach Łódź deportiert, wo innerhalb des jüdischen Ghettos ein abgetrenntes „Zigeunerlager“ errichtet wird. Etwa 600 Menschen sterben dort an Krankheiten und Seuchen. Alle übrigen Lagerinsassen werden im Januar 1942 ins Vernichtungslager Chełmno gebracht und in Vergasungswagen erstickt. In Simferopol auf der Krim erschießen Kommandos der Einsatzgruppe D alle Bewohner des Roma-Viertels, nachdem man die Menschen in den Wochen zuvor namentlich registriert hat. Lohse, „Reichskommissar für das Ostland“ (der nördliche Teil der besetzten Sowjetunion) schreibt an die Höheren SS- und Polizeiführer: „Ich bestimme daher, dass sie (die Zigeuner) in der Behandlung den Juden gleichgestellt werden.“

Ab Anfang 1942 werden die Deportationen und Massenmorde an Sinti, Roma und Juden intensiver. Im Warschauer Getto müssen Sinti und Roma Armbinden mit der Aufschrift „Z“ tragen. Die meisten werden später in Treblinka ermordet, ebenso wie alle überlebenden Juden nach Liquidierung des Ghettos. Über 25.000 rumänische Roma werden in die besetzte Ukraine (Transnistrien) deportiert, wo der Großteil der Menschen umkommt. Im „Protektorat Böhmen und Mähren“ werden Roma erfasst und in Lager verschleppt. Später erfolgt die Deportation nach Auschwitz-Birkenau. Der “Auschwitz-Erlass” Himmlers vom 16. Dezember 1942 ist die Grundlage für die Ende Februar 1943 beginnende Deportation von 23 000 Sinti und Roma aus den besetzten europäischen Ländern (darunter etwa 13 000 aus Deutschland und Österreich) in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Dort richtet die SS im Lagerabschnitt B II ein „Zigeunerlager“ ein. Das Vermögen der deportierten Sinti und Roma wird eingezogen, ähnlich der “Arisierung” jüdischen Besitzes. Am 23. März 1943 datiert die erste Massenvernichtungsaktion im „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau. Etwa 1 700 Sinti und Roma aus der Region Białystok werden in den Gaskammern ermordet. Zwei Monate später, am 25. Mai, werden über tausend weitere Sinti und Roma im Gas erstickt.

Josef Mengele missbraucht als Lagerarzt im „Zigeunerlager“ von Auschwitz-Birkenau Häftlinge für medizinische Versuche. Vor allem Mengeles „Zwillingsforschung“, an der das Kaiser- Wilhelm-Institut beteiligt ist und die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird, fallen zahlreiche Sinti- und Roma-Kinder sowie jüdische Kinder zum Opfer. Der Versuch der KZ-Leitung, am 16. Mai 1944 das „Zigeunerlager“ zu „liquidieren“ und die noch lebenden 6.000 Sinti und Roma in den Gaskammern zu ermorden, scheitert am Widerstand der Häftlinge, unter ihnen zahlreiche ehemalige Soldaten (z. B. der Vater von Hugo Höllenreiner).

Am 2. August 1944 wird das „Zigeunerlager” in Auschwitz-Birkenau endgültig liquidiert. Die letzten 2 900 Überlebenden dieses Lagerabschnitts – meist Kinder, Frauen und Alte – werden in der Nacht auf den 3. August in den Gaskammern ermordet. Etwa 3 000 Sinti und Roma sind in den Monaten zuvor als Zwangsarbeiter für die Rüstungsindustrie in andere Konzentrationslager ins Reichsgebiet verlegt worden. Auch jetzt noch kommen Menschen aus anderen Lagern, Juden, Sinti und Roma, nach Auschwitz und werden ermordet, so am 26. September 1944 200 vor allem jugendliche Sinti und Roma aus dem KZ Buchenwald. Nach der Machtübernahme der faschistischen „Pfeilkreuzler“ in Ungarn im Oktober 1944 werden Tausende ungarischer Roma in das Sammellager Komaróm gebracht und dann nach Deutschland deportiert. Auch slowakische Roma werden noch Anfang 1945 in deutsche KZ verschleppt. Sowohl in Ungarn als auch in der Slowakei fallen in der letzten Kriegsphase zahlreiche Roma Massenerschießungen zum Opfer. Viele Juden, Sinti und Roma kommen in den folgenden Wochen bei der Evakuierung der Konzentrationslager auf Todesmärschen um oder sterben bald nach der Befreiung an den Folgen ihrer Haft.
Die Zahl der im nationalsozialistisch besetzen Europa und in den mit Hitler-Deutschland verbündeten Staaten ermordeten Sinti und Roma wird auf eine halbe Million geschätzt. Von den nahezu 40 000 erfassten deutschen und österreichischen Sinti und Roma wurden etwa 25 000 ermordet.

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Unser Kooperationspartner “Forum für Sinti und Roma” sorgte 2015 für eine Gedenktafel in der berüchtigten Hardenberger Straße in Hannover.

Wir haben eine gemeinsame historische Verantwortung

Unsere gemeinsame historische Verantwortung ist es, die Erinnerung an diese geschichtlichen Ereignisse zu bewahren und wachzuhalten. Erinnerung ist im Leben der Völker ein eigener Wert, unabhängig davon, ob sie zum “Nie Wieder!” der Untaten beitragen kann oder nicht. Erinnerung ist Teil der Identität der Völker, das gilt auch für die Erinnerung an die bösen Seiten im Buch des Lebens. Erst 1982 war es Bundeskanzler Helmut Schmidt, der sich anlässlich eines Empfangs von Vertretern des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma zu der Erklärung durchrang: „Den Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermords erfüllt.“ Damit wird der Völkermord an den Sinti und Roma nach Jahrzehnten der Verdrängung erstmals offiziell von einer deutschen Bundesregierung anerkannt.

Und Bundespräsident Roman Herzog stellte anlässlich der Eröffnung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg 1987 klar: „Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet.“

Heute bedrohen Rechtsradikale, unterstützt und gestärkt von rassistischen Einstellungen in der Mehrheitsgesellschaft und institutionellem Rassismus in den Behörden und Einrichtungen des Staates, erneut Juden, Sinti und Roma gleichermaßen. Wir sind in einem Boot – wehren wir den erneuten Anfängen gemeinsam!

Logo Arbeitskreis Gedenken

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