Gedanken zum Anne-Frank-Tag

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Anne und Settela hatten das gleiche Schicksal. Warum wird an die eine dauernd erinnert und an die andere so gut wie nie? Warum konnte die eine ein Tagebuch schreiben und die andere nicht? Warum gibt es am 12. Juni einen Anne-Frank-Tag und nicht auch einen Settela-Steinbach-Tag am 23. Dezember? Das wären Gedanken, denen Lehrkräfte mit ihren Schülerinnen und Schülern an den 266 Anne-Frank-Schulen einmal nachgehen könnten, heute, am Anne-Frank-Tag…

Das bekannte Foto von Anne Frank wurde der Webseite des Anne-Frank-Hauses in Berlin entliehen. Das Bild von Settela stammt aus dem Film „Abfahrt des Deportationzuges 19. Mai 1944“ im holländischen Durchgangslager Westerbork, gefilmt von Rudolf Breslauer. Kurz danach, 20 km nördlich von Westerbork, werden in der holländischen Stadt Assen noch weitere Waggons aus dem belgischen Transport XXV (25) aus dem Durchgangslager Kazerne Dossin in Mechelen  angehängt, dann fährt der Zug  mit Juden und holländischen Sinti, unter ihnen Settela Steinbach, weiter nach Osten, Richtung Auschwitz. Aus: Westerbork Filmmontage Rolle 1 (RVD cat.nr. 02-1167-01) mit freundlicher Genehmigung von Nederlands Instituut voor Beeld en Geluid | OpenImages. BUM20200415_31_19440519 . Deportation Train (20200414 v20200415) Michel van der Burg | Settela.com

(Link zu einem Video von Rudolf Breslauers Filmstreifen: https://youtu.be/uZSsTegI8y4)

 

Berliner Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma in Gefahr

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Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas

© Rolf Krahl / CC-BY 4.0  (via Wikimedia Commons)

Die Reichsbahn, Entschuldigung: die Deutsche Bahn, will das Denkmal für die im Nationalsozia­lismus ermordeten Sinti und Roma Europas im Berliner Tiergarten teilweise sperren oder gar verlegen. Nach derzeitigen Plänen der Deutschen Bahn AG soll ausgerechnet hier in der Nähe des Reichstagsgebäudes „eines der wichtigsten Zukunftsprojekte“ (O-Ton Bahn) des Berliner Bahn-Netzes entstehen: eine neue City-S-Bahnlinie als zusätzliche Nord-Südtrasse für den Hauptbahnhof. Nicht nur die Sinti und Roma, sondern auch deutsche Juden und andere Gruppen, denen die Erinnerung an Shoa und Porrajmos wichtig ist, wollen Widerstand leisten.

Auf dem Webportal change.org läuft gegenwärtig eine Petition als erster Aufschlag eines hoffentlich breit unterstützten Protestes gegen die Bahnpläne, die das mühsam erkämpfte, 2012 eingeweihte Mahnmal gefährden. (https://www.change.org/p/deutsche-bahn-ag-das-mahnmal-der-ermordeten-sinti-roma-bleibt) Die Verantwortlichen der Deutschen Bahn haben offenbar ein kurzes Gedächtnis. Bei der Trassierung der S-Bahn-Linie, die sich nach der Unterquerung der Spree teilt und den Reichstag rechts und links umgeht, haben sie das Mahnmal auf der Südseite des Reichstagsgebäude einfach übersehen. Die westliche S-Bahn-Trasse läuft genau über den Standort des Mahnmals. Wie man aus Gesprächen der Mahnmalstiftung und des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma mit den Bahn-Vertretern hört, waren letztere sehr überrascht, dass jemand dagegen sein könnte, das Mahnmal einfach abzubauen und woanders hin zu verlegen. Noch weniger erinnerten sie sich der Tatsache, dass die deutsche Eisenbahn von den Deportationen der Sinti, Roma, Juden und anderer Opfergruppen in die nationalsozialistischen Vernichtungslager recht gut profitiert hat. Und dass sich daraus eine historische Verantwortung für die Bahn heute ergeben könnte. Nur zum Vergleich: die holländische Bahngesellschaft hat schon vor Längerem eingewilligt, für die Mittäterschaft bei den NS-Deportationen aus den Niederlanden eine Wiedergutmachung zu leisten.

Die Bedrohung des Mahnmals, das für viele Angehörige von Opfern ein bedeutender Erinnerungsort ist, kann nicht nur als eine Angelegenheit der Sinti und Roma behandelt werden. Sie geht alle an, denen die deutsche Erinnerungskultur und der Kampf gegen das Vergessen ebenso wie gegen den wieder aufkommenden Rechtsradikalismus wichtig ist.

2. August – Internationaler Sinti- und Roma-Gedenktag

Heute, am 2. August, ist ein bedeutender internationaler Gedenktag der Sinti und Roma. Am 2. August 1944 wurde der von den Nazis als „Zigeunerlager“ bezeichnete Bereich B-II-e des KZ Auschwitz-Birkenau liquidiert. Rund 3000 dort noch überlebende Männer, Frauen und Kinder wurden in den Gaskammern ermordet.

Lageplan Birkenau

In den 19 Baracken des Bereichs B II-e waren Tausende von Sinti und Roma seit Anfang 1943 unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten worden. Die meisten von ihnen waren bis August 1944 schon an Zwangsarbeit, Krankheiten, medizinischen Experimenten des „Lagerarztes“ Mengele oder durch die Mörderhände der SS ums Leben gekommen. Schon am 16. Mai 1944 sollten auch die restlichen Überlebenden ermordet werden. Doch an jenem Tag wehrten sich die Sinti und Roma von B II-e. Nur mit Knüppeln und einigen Werkzeugen bewaffnet, leisteten sie Widerstand gegen die SS. Die Nazis wichen zurück und verschoben die Auflösung des Lagers. Der 16. Mai wird deshalb noch heute international als „Roma Resistance Day“, als Tag des Widerstands der Sinti und Roma, begangen.

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Das wollten die Nazis nicht ein zweites Mal erleben. Sie sonderten deshalb vor dem 2. August diejenigen aus, die noch kräftig genug waren, und verlegten sie in andere KZs. Am Nachmittag des 2. August wurde dann ein Güterzug an die Rampe in Birkenau gefahren. 1 500 Sinti und Roma wurden verladen und gegen 16 Uhr abtransportiert. Am Abend wurden die rund 3 000 Übriggebliebenen zu den Gaskammern gebracht. Wieder wehrten sie sich bis aufs Äußerste, hatten aber diesmal keine Chance.

Leichenverbrennung in Birkenau 1944.

Ihr Tod soll ebenso wenig vergessen sein wie der Tod all der anderen von den Deutschen zwischen 1933 und 1945 Ermordeten. Auch an das Leid der überlebenden Angehörigen erinnern wir, vor allem der vielen Kinder, die ihre Großeltern, Eltern, Geschwister und Verwandte durch den Völkermord verloren.

Dieses Leid der folgenden Generationen hört bis heute nicht auf. Wieder werden Sinti und Roma in Deutschland und ganz Europa ausgegrenzt, geschlagen, vertrieben, verschleppt, mit dem Tode bedroht oder durch Behörden drangsaliert. Ihre Freizügigkeit wird in Frage gestellt, sie müssen sich rechtfertigen, wenn sie reisend oder beruflich unterwegs sind. Sie müssen sich ungerechten Polizeiaktionen beugen, überzogene Kontrollen über sich ergehen lassen. Man will sie aus Wohngebieten vertreiben oder in lagerähnlichen Unterkünften festsetzen. Ihre Kinder werden in der Schule benachteiligt oder aus den regulären Bildungsgängen abgedrängt. Sinti und Roma werden bereits wieder erfasst und gezählt, so wie damals, als der Porrajmos begann.

Wann hört das auf? fragen die Ermordeten von Auschwitz. Wann werden wir frei sein? fragen die Kinder heute ihre Eltern.

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2019 Auschwitz erinnern heißt auch Porrajmos erinnern!

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Deportation von Sinti aus Asperg, 22. 5. 1940, Foto der Ritter-“Forschungsstelle”, aus dem Bundesarchiv)

Wir haben jetzt einen Antisemitismus-Beauftragten, das ist toll und notwendig. Aber wann fängt Deutschland an, den Antiziganismus auch offiziell wahrzunehmen? Nur weil er weniger offen gewalttätig als damals und heute eher strukturell ist, darf man ihn ignorieren? Ich weiß nicht, ob es Eli Wiesel oder Kurt Tucholsky war, der sinngemäß schrieb, dass sich der Wert einer Kultur daran zeigt, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Ist auch egal von wem das Zitat stammt, es stimmt jedenfalls.

Gräber der im NS Verfolgten müssen unter Schutz gestellt werden

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Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg sind lange her. Viele von den Jüngeren wissen wenig darüber, und es gibt wenige Stätten, die an Krieg und Verfolgung in jenen Zeiten erinnern. Für viele Familien sind es oft nur die Gräber verstorbener Angehöriger, die die Erinnerung wachhalten. Für viele Sinti und Roma haben diese Gräber eine besondere Bedeutung. Dort gedenkt man nicht nur des hier begrabenen toten Menschen, sondern auch derjenigen Familienangehörigen, für die es nirgends eine Grabstelle gibt. Außerdem werden die Familien häufig schon damit konfrontiert, dass die vorgeschriebene Ruhezeit zu Ende geht. Aufgrund der Friedhofsordnungen werden dann die Gräber eingeebnet. So verschwinden nicht nur die Gräber eines oder einer lieben Angehörigen, sondern damit zugleich die Erinnerungsstätten, an denen anderer Opfer des Porrajmos gedacht werden konnte.

Gebühren für die Verlängerung der Ruhezeiten sind oft zu hoch. Oder es ist kein Nachkomme mehr vorhanden, der das Grab weiter pflegen könnte. Die Erhaltung dieser Grabstätten ist aber ein wichtiger Bestandteil der Identität der Sinti und Roma. Die Mehrheitsgesellschaft ist es der früher verfolgten und heute noch vielfältig benachteiligten Minderheit schuldig, dass diese Gräber in öffentliche Obhut genommen werden. Das bedeutet natürlich nicht, dass noch vorhandene Nachkommen kein Recht auf eigene Grabpflege mehr hätten. Es bedeutet nur, dass die Gräber für immer unter Schutz stehen und dass keine weitere Ruhezeit gekauft werden muss. In vielen Bundesländern ist dieses Verfahren bereits üblich. Auch Niedersachsen will und muss sich dem anschließen. Wie die Situation in Hannover ist, davon berichtet der obige Artikel, der vor einiger Zeit in der Neuen Presse Hannover erschienen ist.

In Nienburg soll am Freitag, dem 23. Juni 2017, ein Treffen stattfinden, auf dem diese Fragen zur Sprache kommen. Betroffene Sinti aus unserer Gegend sind eingeladen, um 17:30 Uhr ins Rathaus (Witebsk-Zimmer) zu kommen und an der Diskussion teilzunehmen. Nähere Auskunft gibt Thomas Gatter (Tel. 0151 1728 7826). Wer unsicher ist, ob die Teilnahme sinnvoll ist, kann sich außerdem gern bei Mario Dettmer (Haßbergen) erkundigen.

 

Heute in Ahlem: Niedersachsen gedenkt der Deportation der Sinti

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Orte der Erinnerung an den Porrajmos: der Bahnhof Fischerhof in Hannover-Linden.

In der Nacht zum 3. März 1943 wurden Sinti und Roma aus Nord­deutschland in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. In Hannover erfolgte die Verschleppung aus dem Sammellager in der ehemaligen Jüdischen Gartenbauschule Ahlem über den Bahnhof Fischerhof. Die Aktion war seit Mitte Dezember 1942 von den örtlichen Polizeidienststellen im Raum Hannover infolge eines Erlasses des “Reichführers- SS” Heinrich Himmler vorbereitet worden. Daran wird heute in der Gedenkstätte Hannover-Ahlem, Heisterbergallee 10, 30453 Hannover, ab 12 Uhr erinnert.

 

Ein Ghetto-Überlebender sucht nach Spuren seiner Familie

Das Bildungszentrum des Vereins Deutscher  Sinti in Minden zeigt den Kino-Dokumentarfilm “Linie 41”. Natan Grossman, Überlebender des Ghettos Lodz in Polen, kehrt zurück in seine Heimatstadt und versucht, über 70 Jahre nach den damaligen Geschehnissen herauszufinden, was mit seinem Bruder geschah. Die Eltern wurden im Ghetto ermordet. Der inzwischen neunzigjährige Natan wird mit seinen Erinnerungen ebenso konfrontiert wie mit der Situation im heutigen Polen. Er trifft auf den Sohn des damaligen Nazi-Bürgermeisters, der ebenfalls nach Spuren seiner Familie sucht. Eine spannende und berührende Kino-Doku über die Verfolgung in Nazi-Deutschland und ein Film, mit dem das Zentrum “Mer Ketne – Wir zusammen” seine Bildungsarbeit in Minden fortsetzt. Die Veranstalter Oswald Marschall und Carmen Marschall-Strauss freuen sich auf zahlreiche Besucherinnen Besucher!

Montag, 6. 3. 2017, 19 Uhr, Mer Ketne-Bildungszentrum der Mindener Sinti, Königstraße 3, 32423 Minden. Regisseurin Tanja Cummings wird anwesend sein!

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In ihrer Kino-Doku erzählt Regisseurin Tanja Cummings von der Suche des neunzigjährigen Nathan Grossman nach Spuren seiner im Ghetto ermordeten Eltern und nach dem verschwundenen Bruder.

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Jetzt erst recht gemeinsame Erinnerungskultur unterstützen!

Beste Antwort auf den Rechtsextremismus: Zusammenstehen und offene Diskussion
Arbeitskreis Gedenken und Forum für Sinti und Roma rufen zu Nienburger Forum des Gedenkens auf

Vor dem Hintergrund der jüngsten Aktivitäten von (Neo-)Nazis in Nienburg rufen der  Arbeitskreis Gedenken und das Forum für Sinti und Roma Hannover zu einer starken Beteiligung am Forum des Gedenkens auf. Das öffentliche Forum findet im Ratssaal der Stadt Nienburg am 4. 2. ab 11 Uhr statt. Vorbereitend dazu bringt der Filmpalast Nienburg, Brückenstraße 2, den Film “Wir sind Juden aus Breslau” in Anwesenheit der Filmemacher Karin Kaper und Dirk Szuszies auf die Leinwand.

Die beiden Einrichtungen der Stadt Nienburg und der Region Hannover halten dies für die beste Antwort auf den in Nienburg aufbrandenden Rechtsradikalismus und seinen offenbar konzertierten Angriff auf die Gedenkkultur an der Mittelweser. Vor dem Hintergrund öffentlicher Schmähungen der Gedenkkultur durch Repräsentanten der AfD und anderer rechtsradikaler Parteien und Gruppierungen in den letzten Wochen kam es  am 19. November 2016 und am 28. Januar 2017 – beide Male im unmittelbaren Umkreis antifaschistischer und offizieller Gedenktage – zu Aufmärschen der Nazis in der Weserstadt. Besonders der letzte Aufmarsch einen Tag nach dem Internationalen Holocaust-Gedenktag und unmittelbar vor dem Gedenken Nienburger Sinti an alle Opfer von Shoa und Porrajmos erinnerte mit seiner NS-Choreographie an Fackelzüge der SA und Bücherverbrennungen. Am Holocaust-Gedenktag war zudem die Stadt durch eine Bombendrohung in beiden Gymnasien – zeitgleich mit einer Informationsveranstaltung zur Kultur der Sinti in einer anderen Schule – in Angst versetzt worden.

Arbeitskreis Gedenken Nienburg und Forum für Sinti und Roma Hannover gehen davon aus, dass die rechtsradikalen Aktionen an der Mittelweser kein Zufall sind. Nienburg habe eine intensive Gedenkkultur. Diesem wichtigen Bestandteil des öffentlichen Lebens der Stadt gelte der Angriff der Neonazis. Die beiden Einrichtungen teilen die Ansicht von WABE, dass Nienburg von der “Rechten” als möglicher Ersatz für Bad Nenndorf ausgewählt wurde, wo starke zivilgesellschaftliche Gegenmaßnahmen ihre Freiräume weitgehend zurückgedrängt haben. Arbeitskreis und Forum appellieren an die Nienburger Öffentlichkeit, diesem Angriff eine Absage zu erteilen. Die beste Antwort der demokratischen Kräfte auf den Rechtsextremismus sei Zusammenstehen und offene Diskussion. Sie fordern zur verstärkten Teilnahme am bevorstehenden Forum des Gedenkens auf, das eine gute Möglichkeit biete, die Vorkommnisse und ihre Hintergründe öffentlich zu diskutieren.

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Mer Ketne

Mindener Sinti-Verein eröffnet neues Informationszentrum mit Dauerausstellung über Porrajmos

Am kommenden Samstag (29. Oktober) eröffnet der Verein Deutscher Sinti e.V. Minden sein neues Bildungs- und Informationszentrum in der Mindener Innenstadt. Dabei wartet der Verein mit einem Höhepunkt auf, der nicht nur die Mindener Sinti und Roma interessieren wird. Die Auftaktveranstaltung des Zentrums schließt die Eröffnung einer Dauerausstellung über die Geschichte des Porrajmos ein. Die umfassende und wissenschaftlich fundierte Ausstellung beruht auf einer Dokumentation, die auf der Expo Hannover gezeigt und jetzt für die neuen Räume in Minden umgearbeitet wurde. Minden verdankt diese wichtige Ergänzung seiner Stadtkultur dem ehemaligen Boxer und erfolgreichen Boxtrainer Oswald Marschall, der seit 2015 den Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma in Berlin vertritt. Daneben ist er 1. Vorsitzender des Mindener Vereins.

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Der Mindener Oswald Marschall vertritt die Sinti und Roma in vielen Gremien auf Bundesebene und ist Leitender Referent des Zentralrats der Sinti und Roma in Berlin (Foto newiki)

Die Veranstaltung am Samstag, die um 15 Uhr in der Königstraße 3 beginnt, gibt den Teilnehmenden zugleich viel Gelegenheit zum Austausch über die Situation der Sinti und Roma in Deutschland und deren mögliche Verbesserung. Nach wie vor ist die Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber der anerkannten nationalen Minderheit der Sinti von Rassismus und Antiziganismus geprägt. Insbesondere die Bildungsintegration lässt zu wünschen übrig. Vorurteile und rassistische Klischees beherrschen die Haltung der Bevölkerungsmehrheit gegenüber den Sinti. Häufig werden sie kriminalisiert, während ihr verfassungsmäßiger Anspruch auf Gleichheit vor dem Gesetz – offen oder versteckt – verweigert wird. Gleichzeitig wirkt die Ausgrenzung aus Bildungs-, Ausbildungs- und Berufschancen wie eine self-fulfilling prophecy (eine Vorhersage, die selbst dafür sorgt, dass sie eintritt). Die systematische Benachteiligung drängt die Betroffenen an den Rand der Gesellschaft, ins soziale Abseits und in Milieus, die abweichendes Verhalten und Rechtsbrüche begünstigen, ja sogar zwangsläufig machen. All diese Sachverhalte und ihre beklagenswerten Folgen betreffen ebenso die Roma in Deutschland – im Allgemeinen nur noch schlimmer.

In drei Workshops, zu denen sich zahlreiche prominente VertreterInnen aus Politik und Bildung Nordrhein-Westfalens angesagt haben, sollen diese Themen offen zur Sprache kommen. Die Mindener Sinti wollen aber nicht nur Schlimmes beklagen, sondern nach vorn sehen. Das Bildungszentrum hat sich mit dem Projekt “Mer Ketne – Wir zusammen” das Ziel gesetzt, zwar über Diskriminierung und Chancen-Ungleichheit aufzuklären, aber auch Wege aufzuzeigen, wie diese zu überwinden sind und mehr gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen ist.

Die Veranstaltung ist öffentlich, Besucherinnen und Besucher auch von außerhalb Mindens sind willkommen!

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Tschechische Volleyball- Jugendmannschaft unter dem Namen “Zyklon B”

Rassismus und Antizinganismus in Osteuropa nehmen zu. In Tschechien lief Anfang Oktober die Volleyball-Mannschaft eines Kinderheims unter dem Namen “Zyklon B” auf.

Zyklon B hieß das Giftgas, das in Auschwitz zum Einsatz kam. Bei dem Turnier traten auch Roma-Kinder an. Da in osteuropäischen Ländern wohl keine Roma-Familie existiert, deren Großeltern und Elterngeneration nicht vom Porrajmos betroffen waren, ist die Namensgebung für das jugendliche Volleyballteam eine unerträgliche Provokation und eine rassistische Verhöhnung der Opfer unter den Sinti und Roma. Über den Vorfall berichteten mehrere tschechische Zeitungen, darunter die Jüdische Zeitung “Zidovske listy” und das Blatt “Pravo”.

Jüdische Organisationen in Tschechien äußerten sich entsetzt über den Vorfall. “Mich überrascht, dass die Veranstalter dies nicht gestoppt haben”, zitierte “Pravo” Tomas Jelinek, den früheren Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Prag. Seine Tochter hatte für ein anderes Team an dem Wohltätigkeitsturnier teilgenommen und davon berichtet. Fans hätten im Stadion “Lauf, Zyklon B!” gerufen.

Es sei erschütternd, dass das Team “Zyklon B” unter anderem gegen eine Gruppe von Roma-Kindern gespielt habe, sagte Jelinek weiter. Mit dem Giftgas Zyklon B hatten die Nationalsozialisten im Vernichtungslager Auschwitz mehr als eine Million Juden sowie Zehntausende Sinti und Roma ermordet.

Während der deutschen Besatzungszeit wurden die Roma auch im Protektorat Böhmen und Mähren verfolgt. Besonders schlimm wurde es nach dem 9. März 1942. Die Protektoratsregierung übertrug ein Gesetz aus dem Reich auf die ehemalige Tschechoslowakei: den Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Unter diesem Deckmantel kämpfte das NS-Regime gegen alle so genannten „asozialen“Elemente. Es war der Startschuss für die rassische Kategorisierung der Roma und ihre Deportation nach Auschwitz.

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Roma-Kinder aus Böhmen nach der Befreiung.

 

 

 

 

 

 

 

Nach dem Krieg kehrten nur 583 tschechische Roma aus den Konzentrationslagern der Nazis zurück. Michal Schuster ist Historiker am Museum für die Kultur der Roma in Brno:

„Wir können festhalten, dass 90 Prozent der ursprünglichen Roma-Bevölkerung in Böhmen und Mähren während des Zweiten Weltkriegs massakriert wurde. Und der prozentuelle Anteil von Betroffenen einer einzelnen Volksgruppe ist einer der höchsten in ganz Europa.“ (Radio Prag: Porrajmos – der Holocaust an den Roma im Protektorat Böhmen und Mähren, 27. 10. 2012)

Der Leiter des  Kinderheims bei Prag, dessen Team als “Zyklon B” angetreten war, und die veranstaltende Stiftung entschuldigten sich dafür, den Vorfall nicht rechtzeitig unterbunden zu haben. Wer für die Namensgebung verantwortlich war, ist bislang nicht bekannt. Es ist die historische Verantwortung der Mehrheitsgesellschaften in Europa, und der Respekt vor den Opfern von Auschwitz und ihren Nachkommen fordert es, solchen Entwicklungen entschieden entgegenzutreten.