Nienburger Sinti gründen Verein und vernetzen sich

Musikalisches Highlight auf der Netzwerktagung im Kulturwerk: das Ramon Rose Duo!

IMG_1089

Gründung von Sinti und Roma Mittelweser (e.V.) gibt der Tagung des Interessenverbunds Weser-Ems im Nienburger Kulturwerk nachhaltige Wirkung

Große Resonanz seitens der niedersächsischen Sinti erfreute sich die Tagung des Interessenverbunds Weser-Ems der Sinti und Roma am vergangenen Wochenende im Nienburger Kulturwerk. Angehörige der in Deutschland als nationale Minderheit anerkannten Bevölkerungsgruppe aus Leer, Celle, Hannover und der Mittelweser-Region waren auf Einladung des Arbeitskreises Gedenken nach Nienburg gereist, um sich über ihre soziale Situation auszutauschen und Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe zu erörtern. Die vom Arbeitskreis und dem Sinti-Verein Ostfriesland gemeinsam und mit Unterstützung des Kulturwerks organisierte Tagung hatte nach Angaben des Leeraner Vorsitzenden Michael Wagner das „Empowerment” zum Ziel, die stärkere Befähigung der Minderheit, am sozialen, kulturellen und politischen Leben der Gesellschaft teilzunehmen. Hierzu sei die Selbstorganisation vor Ort eine wesentliche Voraussetzung, hatte Wagner bei seiner Eröffnungsrede erklärt.

Wagners Appell wurde von ausnahmslos allen Referenten unterstützt. Gekommen waren unter anderem Thomas Jung, Pfarrer der Nienburger Sankt-Bernward-Gemeinde, Bernd Grafe-Ulke vom niedersächsischen Projekt „Kompetent gegen Antiziganismus” und Ralf Küper von der Landesschulbehörde. Probleme der gesellschaftlichen Integration, der Wohnungssuche, der Chancengleichheit in Schule und Berufsausbildung und beim Umgang mit Behörden wurden in einer Podiumsdiskussion thematisiert und in Arbeitsgruppen vertieft. Dabei stellte sich heraus, dass Ausgrenzung und Benachteiligung von Sinti und Roma in allen beteiligten Städten in ähnlichem Maße erfahren werden.

Vor diesem Hintergrund berichteten Tagungsteilnehmer aus Nienburg über ihre Initiative zu einer Vereinsgründung unter dem Namen „Sinti und Roma Mittelweser e.V.” Unterstützt vom Arbeitskreis Gedenken, waren sie im Vorfeld der Konferenz zusammengekommen, um eine Satzung, einen Antrag auf Gemeinnützigkeit und ein erstes Arbeitsprogramm zu beschließen. Auch ein Vorstand sei bereits gewählt worden. Der Verein plane noch für dieses Jahr eine Veranstaltung zur weiteren Mitgliederwerbung. Daneben wolle man Kontakte zur Stadt und zum Landkreis knüpfen und sich mit anderen Einrichtungen auch interkulturell vernetzen.

Zum Abschluss der Konferenz zogen die Veranstalter und das Team des Kulturwerks eine positive Bilanz der Veranstaltung. Einen erfreulichen Schlusspunkt setzte eine gemeinnützige Maßnahme: die übrig gebliebene Tagungsverpflegung wurde über die sozialen Netze und ,,Nienburg hilft” an hilfsbedürftige Familien verteilt. Und durch die Gründung des Vereins “Sinti und Roma Mittelweser (e.V.) erhält die 2. Netzwerktagung des Interessenverbunds Weser Ems eine nachhaltige Wirkung!

“Unter uns?” – Ausstellung der Sinti in Ostfriesland und Leer bis 25. Januar 2019

Aufgrund des großen Publikumsinteresses wird die Ausstellung “Unter uns? – Sinti in Ostfriesland und Leer” in der Gedenkstätte Ahlem verlängert. Sie ist noch bis zum 25. Januar 2019 zu sehen. Mitglieder des 1. Sinti-Vereins Ostfriesland haben diese Ausstellung initiiert und in Zusammenarbeit mit dem Heimatmuseum und der Stadt Leer in hohem Maße an der Entstehung mitgewirkt.

Picture1

 

Foto: Andreas Mischok

 

 

 

 

 

 

Das Foto zeigt Schülerinnen und Schüler des 11. Jahrganges der Sophienschule Hannover und Vertreterinnen und Vertreter des 1. Sinti-Vereins Ostfriesland aus Leer. Die Gedenkplatte zur Erinnerung an die Deportation der Sinti aus Hannover wurde 2018 zum 75. Jahrestag der Deportationen in der Gedenkstätte Ahlem bei Hannover eingeweiht.

Inhaltlich geht es bei der Ausstellung vor allem um die Nachkriegsgeschichte der Sinti im ostfriesischen Raum, darin nicht nur um die fortgesetzte Ausgrenzung und die Aufklärung über langlebige Vorurteile. Die Präsentation gibt auch interessante Einblicke in die Entwicklung der Sinti in Ostfriesland und ihre heutige Situation. Sie zeigt, was mit Initiative und Engagement für die nationale Minderheit erreicht werden kann.

Auf Einladung der Gedenkstätte Ahlem waren vom 19.11. bis zum 23.11. Vertreterinnen und Vertreter des 1. Sinti Vereins Ostfriesland in Hannover zu Gast und haben mit mehr als 150 Teilnehmenden Workshops zu Inhalten der Ausstellung durchgeführt. Vertreterinnen und Vertreter der Sinti kamen so in einen intensiven Austausch mit Angehörigen der Bundeswehr, Schülerinnen und Schülern, sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern.

Auskunft über Workshop-Angebote und Besuche durch Gruppen können über die Webseite der Gedenkstätte eingeholt werden: http://www.gedenkstaette-ahlem.de

 

 

Sind wir immer noch Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse?

“Sind wir immer noch Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse?” fragen Roma im heutigen Europa und fragt mit ihnen Regisseur Samuel Lajua in seinem außergewöhnlichen Doku-Film. Am Dienstag, 18.7. 2017, um 21:45 strahlt ARTE ihn aus.

ma6_vicente-rodriguez_20160311_56-small

Menschenrechtsaktivist Vicente Rodriguez Fernandez aus Spanien © Stephan Massis

Rassismus und Nationalismus in Europa führen zu staatlich organisierten Zwangsvertreibungen, Gewalt und verschärfter Diskriminierung. Im Zentrum des Films steht die Vertreibungspolitik des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy im Jahr 2010. Ein treffendes Beispiel für die seit Jahrhunderten andauernde Sündenbockfunktion der Roma und in Deutschland auch der Sinti in der Politik.

Mit der Osterweiterung der EU hat sich die Situation keineswegs verbessert. Bildungschancen, Zugang zu Gesundheitsversorgung, Ausgrenzung, Übergriffe und Zwangsvertreibungen gegen Roma-Minderheiten in zahlreichen osteuropäischen Mitgliedsstaaten haben sich eher verschlimmert. Dem Film gelingt es sehr gut, allzu einfache Antworten auf komplizierte Fragen zu vermeiden und stattdessen zu beleuchten, warum die seit Jahren laufenden Förderungsmaßnahmen der EU so bitter scheitern. Es kommen Menschen zu Wort, die täglich von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen sind, aber auch Aktivisten gegen Antiziganismus und für Menschenrechte in Europa. Der Film leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Antiziganismus als einem Problem der Mehrheitsgesellschaften.

Nienburg muss solidarisch mit den Familien sein, deren Gräber geschändet wurden

OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Foto: Förderverein Roma, Frankfurt. Auch in Nienburg soll bald ein Mahnmal für die im NS verfolgten und ermordeten Sinti der Stadt entstehen.

Wenn auf einem Nienburger Friedhof Straftäter über Sinti-Gräber herfallen, sie verwüsten und Grabschmuck entwenden, dann handelt es sich um respekt- und pietätlose Hooligans oder bodenlose Dummköpfe, die den niedrigen Marktpreis für Bronze nicht kennen. Aber es ist mehr als das. Es handelt sich dabei – ob den Grabschändern bewusst oder nicht – auch um rassistische Straftaten. Sie richten sich gegen eine Minderheit, die nach dem Gesetz ein anerkannter Teil der deutschen Gesellschaft ist. Die aber dennoch in zahlreichen Lebensbereichen wie Schule, Arbeit, Wirtschaft, Akzeptanz bei den Behörden und vielen mehr von Benachteiligung und Diskriminierung betroffen ist.

644 antisemitische Straftaten wurden im Jahr 2016 aktenkundig. Die meisten von ihnen waren Schmierereien, persönliche Diffamierungen, Holocaust-Leugnungen und nicht wenige Friedhofs- und Mahnmalschändungen, übrigens auch in dieser Stadt. 15 von ihnen, glücklicherweise nicht in Nienburg, waren Fälle physischer Gewalt, die zu zwei Festnahmen und vier Haftbefehlen führten. Laut Aussagen der Polizei und von (nichtjüdischen) Kriminologen liegt die Dunkelziffer – also die Anzahl nicht gemeldeter antijüdischer Straftaten – noch höher. Woher wissen wir das alles? Weil Antisemitismus und antisemitische Straftaten im öffentlichen Bewusstsein Deutschlands völlig inakzeptabel sind. Deshalb werden Statistiken geführt, deshalb kommen diese Vergehen und Verbrechen im Polizeibericht vor, deshalb berichten die Medien darüber.

Was wir nicht wissen, ist die Anzahl antiziganistischer Straftaten, also von Vergehen und Verbrechen, die aus rassistischen Gründen gegen Angehörige der nationalen Minderheit der Sinti oder gegen Roma verübt werden. Warum wissen wir das nicht? Weil Antiziganismus und antiziganistische Straftaten im öffentlichen Bewusstsein Deutschlands nicht völlig inakzeptabel sind, jedenfalls nicht in gleichem Maße wie der Antisemitismus. Deshalb werden darüber keine Statistiken geführt, deshalb kommen diese Straftaten in der Regel nicht in den Polizeibericht, deshalb berichten auch die Medien kaum darüber.

Deshalb darf Nienburg, ein Gemeinwesen, das den Ehrennamen „Stadt der Vielfalt“ trägt, angesichts der jüngsten, in den Medien ausführlich berichteten Grabschändungen nicht gleichgültig zur Tagesordnung übergehen. Gefordert ist die Solidarität aller Nienburgerinnen und Nienburger mit den Familien, deren Gräber und Erinnerungsorte Objekte dieser verwerflichen Übergriffe geworden sind. Und die Ermittlungsbehörden müssen alles daransetzen, die Täter zur Verantwortung zu ziehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mer Ketne

Mindener Sinti-Verein eröffnet neues Informationszentrum mit Dauerausstellung über Porrajmos

Am kommenden Samstag (29. Oktober) eröffnet der Verein Deutscher Sinti e.V. Minden sein neues Bildungs- und Informationszentrum in der Mindener Innenstadt. Dabei wartet der Verein mit einem Höhepunkt auf, der nicht nur die Mindener Sinti und Roma interessieren wird. Die Auftaktveranstaltung des Zentrums schließt die Eröffnung einer Dauerausstellung über die Geschichte des Porrajmos ein. Die umfassende und wissenschaftlich fundierte Ausstellung beruht auf einer Dokumentation, die auf der Expo Hannover gezeigt und jetzt für die neuen Räume in Minden umgearbeitet wurde. Minden verdankt diese wichtige Ergänzung seiner Stadtkultur dem ehemaligen Boxer und erfolgreichen Boxtrainer Oswald Marschall, der seit 2015 den Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma in Berlin vertritt. Daneben ist er 1. Vorsitzender des Mindener Vereins.

2015-05-04_ausstellung_ordnung_und_vernichtung-_die_polizei_im_ns-staat_polizeidirektion_hannover_201_oswald_marschall

Der Mindener Oswald Marschall vertritt die Sinti und Roma in vielen Gremien auf Bundesebene und ist Leitender Referent des Zentralrats der Sinti und Roma in Berlin (Foto newiki)

Die Veranstaltung am Samstag, die um 15 Uhr in der Königstraße 3 beginnt, gibt den Teilnehmenden zugleich viel Gelegenheit zum Austausch über die Situation der Sinti und Roma in Deutschland und deren mögliche Verbesserung. Nach wie vor ist die Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber der anerkannten nationalen Minderheit der Sinti von Rassismus und Antiziganismus geprägt. Insbesondere die Bildungsintegration lässt zu wünschen übrig. Vorurteile und rassistische Klischees beherrschen die Haltung der Bevölkerungsmehrheit gegenüber den Sinti. Häufig werden sie kriminalisiert, während ihr verfassungsmäßiger Anspruch auf Gleichheit vor dem Gesetz – offen oder versteckt – verweigert wird. Gleichzeitig wirkt die Ausgrenzung aus Bildungs-, Ausbildungs- und Berufschancen wie eine self-fulfilling prophecy (eine Vorhersage, die selbst dafür sorgt, dass sie eintritt). Die systematische Benachteiligung drängt die Betroffenen an den Rand der Gesellschaft, ins soziale Abseits und in Milieus, die abweichendes Verhalten und Rechtsbrüche begünstigen, ja sogar zwangsläufig machen. All diese Sachverhalte und ihre beklagenswerten Folgen betreffen ebenso die Roma in Deutschland – im Allgemeinen nur noch schlimmer.

In drei Workshops, zu denen sich zahlreiche prominente VertreterInnen aus Politik und Bildung Nordrhein-Westfalens angesagt haben, sollen diese Themen offen zur Sprache kommen. Die Mindener Sinti wollen aber nicht nur Schlimmes beklagen, sondern nach vorn sehen. Das Bildungszentrum hat sich mit dem Projekt “Mer Ketne – Wir zusammen” das Ziel gesetzt, zwar über Diskriminierung und Chancen-Ungleichheit aufzuklären, aber auch Wege aufzuzeigen, wie diese zu überwinden sind und mehr gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen ist.

Die Veranstaltung ist öffentlich, Besucherinnen und Besucher auch von außerhalb Mindens sind willkommen!

mer-ketne

Tschechische Volleyball- Jugendmannschaft unter dem Namen “Zyklon B”

Rassismus und Antizinganismus in Osteuropa nehmen zu. In Tschechien lief Anfang Oktober die Volleyball-Mannschaft eines Kinderheims unter dem Namen “Zyklon B” auf.

Zyklon B hieß das Giftgas, das in Auschwitz zum Einsatz kam. Bei dem Turnier traten auch Roma-Kinder an. Da in osteuropäischen Ländern wohl keine Roma-Familie existiert, deren Großeltern und Elterngeneration nicht vom Porrajmos betroffen waren, ist die Namensgebung für das jugendliche Volleyballteam eine unerträgliche Provokation und eine rassistische Verhöhnung der Opfer unter den Sinti und Roma. Über den Vorfall berichteten mehrere tschechische Zeitungen, darunter die Jüdische Zeitung “Zidovske listy” und das Blatt “Pravo”.

Jüdische Organisationen in Tschechien äußerten sich entsetzt über den Vorfall. “Mich überrascht, dass die Veranstalter dies nicht gestoppt haben”, zitierte “Pravo” Tomas Jelinek, den früheren Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Prag. Seine Tochter hatte für ein anderes Team an dem Wohltätigkeitsturnier teilgenommen und davon berichtet. Fans hätten im Stadion “Lauf, Zyklon B!” gerufen.

Es sei erschütternd, dass das Team “Zyklon B” unter anderem gegen eine Gruppe von Roma-Kindern gespielt habe, sagte Jelinek weiter. Mit dem Giftgas Zyklon B hatten die Nationalsozialisten im Vernichtungslager Auschwitz mehr als eine Million Juden sowie Zehntausende Sinti und Roma ermordet.

Während der deutschen Besatzungszeit wurden die Roma auch im Protektorat Böhmen und Mähren verfolgt. Besonders schlimm wurde es nach dem 9. März 1942. Die Protektoratsregierung übertrug ein Gesetz aus dem Reich auf die ehemalige Tschechoslowakei: den Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Unter diesem Deckmantel kämpfte das NS-Regime gegen alle so genannten „asozialen“Elemente. Es war der Startschuss für die rassische Kategorisierung der Roma und ihre Deportation nach Auschwitz.

lety_deti_deportacex

 

Roma-Kinder aus Böhmen nach der Befreiung.

 

 

 

 

 

 

 

Nach dem Krieg kehrten nur 583 tschechische Roma aus den Konzentrationslagern der Nazis zurück. Michal Schuster ist Historiker am Museum für die Kultur der Roma in Brno:

„Wir können festhalten, dass 90 Prozent der ursprünglichen Roma-Bevölkerung in Böhmen und Mähren während des Zweiten Weltkriegs massakriert wurde. Und der prozentuelle Anteil von Betroffenen einer einzelnen Volksgruppe ist einer der höchsten in ganz Europa.“ (Radio Prag: Porrajmos – der Holocaust an den Roma im Protektorat Böhmen und Mähren, 27. 10. 2012)

Der Leiter des  Kinderheims bei Prag, dessen Team als “Zyklon B” angetreten war, und die veranstaltende Stiftung entschuldigten sich dafür, den Vorfall nicht rechtzeitig unterbunden zu haben. Wer für die Namensgebung verantwortlich war, ist bislang nicht bekannt. Es ist die historische Verantwortung der Mehrheitsgesellschaften in Europa, und der Respekt vor den Opfern von Auschwitz und ihren Nachkommen fordert es, solchen Entwicklungen entschieden entgegenzutreten.